Migrant:innen landen in Österreich oft in unsicheren Jobs, selbst wenn sie hohe Qualifikationen mitbringen. Welche Faktoren eine Integration in den Arbeitsmarkt verhindern – und in die Gesellschaft als Ganzes.
Frustriert ätzt Emad*: „Das ist eine Scheißarbeit“, während er eine Bestellung mit Essen aus einer Fast-Food-Kette in seinem Rucksack verstaut. Er hetzt durch das Einkaufszentrum Donauzentrum in Wien-Donaustadt, die Rolltreppe runter, rechts rum und zügig Richtung Ausgang. Er wirft den Rucksack auf die Rückbank seines Kleinwagens, tippt eine Adresse ins Handy und fährt los.
An diesem warmen Tag steht die Luft im Auto, das er sich für knapp 2.000 Euro gekauft hat. Klimaanlage hat es keine. Wenn er eine Bestellung bei McDonald‘s abholt, füllt Emad seine Trinkflasche dort noch schnell mit Eiswürfeln auf.
Emad kurvt durch die Donaustadt, lädt bei einem anderen Restaurant Essen ein, um es 15 Minuten später bei einem Kunden wieder auszuladen. Unterbrochen wird die Monotonie höchstens, wenn Emad angehupt wird, weil er Verkehrsregeln und Parklücken etwas eigen interpretiert.
Selbstständig Aufträge abarbeiten, die ihnen eine Software zuteilt – zu Tausenden erledigen Menschen in Österreich solche Jobs. Das zeigt eine im November vergangenen Jahres veröffentlichte Studie zu „Migrantischen Ökonomien“ des Instituts für Höhere Studien (IHS) im Auftrag des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF). Der ÖIF wird vor allem vom Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres finanziert und hat die sprachliche, berufliche und gesellschaftliche Inklusion von Migrant:innen in Österreich zum Ziel.
Die Studie zeigt: Überdurchschnittlich viele Migrant:innen landen – trotz hoher Qualifikation – in der „Scheinselbständigkeit“. Soll heißen: keine Arbeitnehmer:innenrechte und schwankende Einkünfte. Essens- und Zeitungszustellungsdienste seien „im Vergleich am stärksten von selbstständiger migrantisch geprägter Erwerbstätigkeit geprägt“.
Menschen aus dem Iran sind dabei laut Studie 7,7-mal häufiger als Selbständige im Verkehrssektor tätig als der österreichische Durchschnitt, Afghan:innen (wobei es meist Männer sind) zehn Mal häufiger.
In der Job-Falle. Vor knapp sieben Jahren kam Emad aus dem Iran nach Österreich. Weil sein akademischer Abschluss hierzulande nichts zählt und er während seines fünfjährigen Asylverfahrens keine reguläre Arbeit annehmen durfte, arbeitet er seither als selbständiger Essenszusteller für ein Subsubunternehmen eines großen Lieferdienstes. Für eine ausgelieferte Bestellung bekommt er rund fünf Euro, am Monatsende bleiben ihm für durchschnittlich 55 Arbeitsstunden in der Woche rund 1.500 Euro netto.
Auffällig ist, dass Menschen aus ähnlichen Herkunftsregionen innerhalb einer Branche oft in denselben Berufen landen: In der Verkehrsbranche fahren Menschen aus der Türkei und Ex-Jugoslawien häufiger Taxi und Menschen aus Indien sind überwiegend in der Güterbeförderung tätig. Und neben Emad eilen noch Dutzende andere Menschen aus dem Iran und Afghanistan mit Fahrrädern, Mopeds oder Autos durch Wien, um Menschen Burger, Pizza oder Pasta zu bringen. Es bilden sich Netzwerke.
Menschen, die in Österreich geboren und freiberuflich tätig sind, arbeiten überwiegend in der Land-und Forstwirtschaft, Rechtsberatung, Architektur, Forschung, Entwicklung oder Werbung – damit verdienen sie meist ausreichend und genießen hohe gesellschaftliche Anerkennung.
In migrantischen Communitys ist das Bild laut IHS-Studie ein anderes: Die Land- und Forstwirtschaft spielt keine Rolle, hier sind es die Bereiche Bau, Handel, Verkehr, Gesundheits- und Sozialwesen sowie Friseurbetriebe und Sexarbeit, in denen die Menschen überwiegend arbeiten.
Fehlende Alternativen. „Entscheidend ist der Aspekt der Freiwilligkeit“, erklärt Elisabeth Frankus, Senior Researcher am IHS und Co-Autorin der Studie. Also: Kommt eine Person freiwillig nach Österreich oder musste sie flüchten? Und eröffnet eine Person ein Unternehmen aus freien Stücken oder weil sie sonst keine Perspektive sieht? Bei geflüchteten Menschen überwiege der Aspekt der Alternativlosigkeit: Entweder es mangelt ihnen an formeller Bildung oder ihre Abschlüsse werden hierzulande nicht anerkannt. „Was eine Integration in den Arbeitsmarkt ungemein erschwert“, betont Forscherin Frankus.
Besonders heikel ist die Lage für Menschen, die sich in einem laufenden Asylverfahren befinden. Sie dürfen (bis auf wenige Ausnahmen wie Saisonarbeit) keinen regulären Job annehmen, jedoch ein Gewerbe anmelden, erklärt Walter Gagawczuk, Arbeitsrechtsexperte der Arbeiterkammer Wien.
Vor allem die Ausübung sogenannter „freier Gewerbe“ wie etwa des Kleintransportgewerbes, worunter auch selbständige Essenszusteller:innen fallen, sind eine Option für Asylbewerber:innen. Gagawczuk spricht von einer „typischen Einstiegsbranche für Menschen aus dem Ausland“.
Im Juli 2021 kippte der Verfassungsgerichtshofs (VfGH) zwei entsprechende Regelungen, die Asylbewerber:innen den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren. Arbeitsminister Martin Kocher (parteilos, auf ÖVP-Ticket) reagierte prompt: Per Erlass setzte er durch, die „strenge Praxis“ beizubehalten, wonach „Asylwerber keinen generellen Arbeitsmarktzugang haben. Vielmehr sind arbeitslose Inländerinnen und Inländer sowie Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte vorrangig zu vermitteln“, stellte Kocher via Aussendung klar.
Abhängig und scheinselbständig. Wie viele seiner iranischen und afghanischen Kollegen (alle sind Männer) ist Emad Gewerbetreibender – was ihre Situation besonders schwierig macht. Denn die Unterschiede zwischen einem Angestelltenverhältnis und der Selbständigkeit sind gravierend: Emad und seine Kollegen erhalten keinen Stundenlohn, sondern werden pro Auftrag bezahlt. Arbeiten sie nicht, etwa weil sie krank sind, werden sie nicht bezahlt. Sie haben keinen Anspruch auf Mindestlohn, Urlaubs- oder Weihnachtsgeld.
Liefern sie mit dem Auto, müssen sie dieses selbst kaufen und Sprit, Reparaturen und Versicherung aus der eigenen Tasche bezahlen. Auch während Auftragsflauten, z. B. bei Schönwetter zwischen 14 und 17 Uhr, werden sie nicht bezahlt. Dann bleibt ihnen nichts anderes übrig als – unbezahlt – zu warten, bis am Smartphone der nächste Auftrag aufscheint.
Einer groben Schätzung der Autor:innen eines internationalen Reports von „Fairwork Austria“ zufolge würden Subunternehmer:innen in der Essenszustellbranche regelmäßig nur die Hälfte im Vergleich zu ihren fix angestellten Kolleg:innen verdienen – nota bene verfügen Letztgenannte ebenfalls über geringes Einkommen und beziehen laut Kollektivvertrag 1.400 Euro netto pro Monat.
Emad und viele seiner Kollegen fallen in die Kategorie „scheinselbständig“: Formell sind sie Gewerbetreibende, de facto aber Angestellte, da sie nur für einen einzigen Auftraggeber arbeiten. Für die Unternehmen selbst ist das ein profitables Geschäft, sie sparen sich die Lohnnebenkosten und zusätzliche arbeitnehmerrechtlichen Ansprüche, die mit Kollektivverträgen einhergehen, z. B. einen Mindestlohn oder ein 13. und 14. Gehalt. Sie zahlen nicht die Arbeitszeit, sondern nur die tatsächliche Leistung, also die Bestellung, die ausgeliefert wird.
Während Unternehmen den Profit einstreichen, wälzen sie das ökonomische Risiko auf Emad und seine Kollegen ab. „Die Kosten werden nach unten durchgegeben“, kritisiert AK-Experte Gagawczuk.
Vom Staat im Stich gelassen. Weitere Faktoren, die die Situation von Migrant:innen am Arbeitsmarkt erschweren: Sprachbarrieren, die mangelnde Inanspruchnahme von öffentlichen Einrichtungen, die den Betroffenen Informationen zur Integration in den Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen sowie ein eingeschränkter Zugang zu Bildungseinrichtungen und Aus- und Fortbildungsprogrammen.
Diese Lücke wird häufig durch informelle Netzwerke gefüllt. „Die eigene Community ist meist die erste Anlaufstelle“, erklärt Frankus vom IHS. Landsleute, die bereits länger in Österreich leben, geben Wissen weiter und vermitteln Jobs – was wiederum erklärt, warum sich Menschen aus bestimmten Nationalitäten für bestimmte Branchen und Berufe entscheiden.
Solche sozialen Netzwerke seien prinzipiell nichts Negatives, ergänzt Frankus. Aber es ergibt sich schnell eine Art Teufelskreis: Prekär Beschäftigte könnten selten die Zeit, das Geld und die Energie aufbringen, um sich fortzubilden. „Wer in ein Land kommt und ein prekäres Beschäftigungsverhältnis eingeht, für den ist es relativ schwierig, da wieder rauszukommen“, sagt sie. In einer Gesellschaft wie der österreichischen, in der Menschen Anerkennung und Wertschätzung vor allem durch ihre Arbeit erfahren, erschwert eine solche Konstellation den Expert:innen zufolge die Integration in die Gesellschaft zusätzlich.
Ungenutztes Potenzial. Um diese Strukturen aufzubrechen und das große Potenzial abzuholen, das Migrant:innen darstellen, bräuchte es mehr staatliche Unterstützung, so Frankus. Dazu zähle mitunter ein breiteres Angebot an Sprachkursen und Aus- und Weiterbildungen. Institutionen wie das AMS, das Wifi oder auch die Volkshochschule und die Gewerkschaften sollten aktiver auf Communitys zugehen, mit diesen kooperieren und ihre Angebote besser kommunizieren.
Die Anerkennung von Bildungsabschlüssen gehört erleichtert. Da müsste sich Österreich viel stärker öffnen, sagen Expert:innen seit Jahren.
Tipp!
Mit der Geschichte von Gere Teklay haben wir ein Positivbeispiel, wie jemand den schwierigen Weg aus dem Prekariat in Richtung seines Traumjobs geschafft hat – und das Ganze auch noch als Audio zum Anhören!
suedwind-magazin.at/geres-traum-vom-pflegejob
Später, bei einem neuerlichen Treffen im Rahmen der Recherche, absolviert Emad gerade seinen letzten Arbeitstag als Essenszusteller. Fast etwas wehmütig erzählt er von McDonald‘s-Mitarbeiter:innen in der Seestadt, die er nach so vielen Begegnungen ins Herz geschlossen hat. Mittlerweile kenne er selbst den allerletzten Winkel der Donaustadt, meint er stolz, während er einhändig und schwungvoll wie immer seinen PKW aus der Parklücke rangiert.
In der Seestadt geht gerade die Sonne unter, die zahlreichen Baukräne sind im Gegenlicht nur noch als Schatten zu erkennen.
Nach dem Wochenende will Emad seinen Einführungstag bei der Österreichischen Post absolvieren. Er will einen Transporter kaufen und als Selbständiger – als „echter“ quasi – Pakete ausliefern; ein Gewerbe habe er ohnehin schon angemeldet. Emad ist optimistisch, dass das ein Schritt nach vorne ist. „Vielleicht kannst du dann wieder eine Reportage schreiben“, sagt er zum Abschied und grinst.
Johannes Greß arbeitet als freier Journalist in Wien, überwiegend zu den Themen Umwelt und Arbeit.
* Name von der Redaktion geändert
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